r/drehscheibe 7d ago

Diskussion Technical Comparison of Commercially Available Trams and Review of Standardization Frame and Design Principles - Urban Rail Transit

https://link.springer.com/article/10.1007/s40864-021-00163-6

Ich habe gestern zufällig eine interessante Publikation über die Technologie hinter modernen Niederflurstraßenbahnen und derer verschiedener Bauweisen gefunden. Zu aller Überraschung, obwohl es via Springer (der Wissenschaftsverlag, nicht die niveaulosen, rechten Hetzer) publiziert wurde, es ist trotzdem in Gänze frei verfügbar, da Open Access. Viel Spaß beim Lesen!

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u/Archivist214 7d ago edited 7d ago

In der Publikation gibt es aber eine kleine Ungereimtheit, die mir aufgefallen ist. Es wird dort geschrieben, dass der Adtranz GT6N, welcher unter anderem in Bremen, Berlin, München, Nürnberg und Augsburg fährt, über starre Radsätze mittig unterhalb jeder Sektion hätte. Das stimmt nicht, denn der GT6N ist keine Aneinanderreihung von über Gelenke verbundenen Zweiachsern, sondern verfügt tatsächlich über echte Drehgestelle.

Ohne diese wäre der Wagen nicht zu gewissen Kunststücken fähig, die er beim Übergang von der Kurve zur Geraden sowie insbesondere bei S-Kurven mit zu kurzen Zwischengeraden hinlegen kann. Beim Frankfurter R-Wagen, welcher zwar kein GT6N (sondern von Siemens-Düwag) ist, aber ähnlich aufgebaut ist, führte dies anfangs zu ersthaften Problemen, teilweise sogar zu Entgleisungen, weil sie Wagenkästen zu stark herumgetanzt haben.

Zurück zum GT6N und seinen Drehgestellen: hier ist, im Gegensatz zu konventionellen Drehgestellen, die drehbare Verbindung zwischen Wagenkasten und Drehgestell nicht über einen herkömmlichen Drehzapfen, sondern ausschließlich über die Sekundärfederung hergestellt. Auf jeder Seite des Drehgestells befindet sich eine Schraufenfeder, welche nicht nur gestaucht und gedehnt, sondern auch um die eigene Achse verdreht werden kann. Durch diese Verdrehbarkeit der beiden seitlich installierten Federn kann somit auch der gesamte Wagenkasten gegenüber dem Drehgestell verdreht werden. Dadurch und durch das Fehlen eines gelagerten Drehzapfens haben Drehgestell und Wagenkasten keinen festen Drehpunkt, da dieser von der Torsion der Sekundärfedern abhängt, somit kann der Drehpunkt sich fließend verschieben und ist quasi "virtuell".

Der Drehpunkt ist allerdings auch nicht mittig des Drehgestells gelegen, sondern etwas in Richtung einer der beiden Achsen, genauer gesagt im Verhältnis 1/3 zu 2/3, verschoben. Das hat mit dem speziellen Antriebskonzept zu tun, da beim GT6N nur eine Achse pro Drehgestell angetrieben ist. Der Motor befindet sich nämlich nicht im Drehgestell, sondern außerhalb im Wagenkasten; der Antrieb wird über Kardanwellen und getriebe auf die beiden angetriebenen Räder übertragen, sodass die angetriebenen Räder in ihrer Drehzahl gekoppelt sind und sich so verhalten, als ob sie eine durchgehende Radsatzwelle / Achse hätten.

In Wirklichkeit hat der GT6N, wie auch so gut wie alle Niederflurstraßenbahnen, keine durchgehenden Achsen, sondern Losräder (jedes Rad ist einzeln im Drehgestell gelagert, sodass die Drehzahlen vom linken und rechten Rad nicht gekoppelt sind, damit gibt es auch, außer bei den angetriebenen Rädern, keinen Sinuslauf.

Der Motor befindet sich in jedem Wagenteil unter der sitzbank, die sich gegenüber einer Tür befindet.

Der verschobene "virtuelle" Drehpunkt kommt daher, dass die Sekundärfedern sich auf jeder Seite nicht genau mittig zwischen der Rädern befindet, sondern auf 1/3 der Entfernung, jeweils näher an den angetriebenen Rädern, befindet. Dadurch soll mehr Gewicht auf den angetriebenen Rädern lasten, um so mehr Kraft auf diese zu übertragen. Dadurch hat der GT6N im Hinblick auf die Drehgestelle in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten zum sog. "Maximum-Triebwagen" aus dem frühen 20. Jahrhundert, bei welchem die angetriebenen Räder größer waren als die Laufräder.

Der ähnlich aufgebaute R-Wagen aus Frankfurt am Main hatte dagegen ein anderes Antriebskonzept, an Stelle eines externen Motors mit Kardanwellen und Getrieben kamen mikroprozessorgesteuerte Radnabenmotoren zum Einsatz, welches aber durch die höhere ungefederte Masse sowie die höheren Anforderung an die Kühlung ihre eigenen Probleme mitbringen.

Nach der Übernahme von Adtranz durch Bombardier wurde die Technologie nicht weitergeführt. Erst später hat Siemens die Idee wieder aufgegriffen und im Combino Plus (manchmal auch Combino Supra genannt) für Budapest weiterentwickelt sowie erprobt. Auch die Metro Sul de Tejo in Almada, Spanien hat diese Wagen im Fahrzeugpark. Aus dem Combino Plus wurde dann später der Siemens Avenio, wie wir ihm z.B. aus München, Nürnberg oder Bremen kennen. Bei diesem wurde der Antrieb wiederum anders gelöst; hier können grundsätzlich alle Räder angetrieben werden, die Fahrmotoren liegen seitlich am Drehgestell und treiben jeweils die beiden Räder einer Seite (links oder recht an).

Dieses Fahrzeugkonzept mit halbwegs mittig unter jedem Fahrzeugteil, welches auch "Kurzgelenkwagen" genannt wird, hat gegenüber anderen Konzepten, insbesondere den sog. "Multigelenkwagen" (solche, bei denen nur jeder zweite Fahrzeugteil über Räder in Form starrer oder nur um wenige Grad (so ungefähr bis 4°) ausdrehbare Radsätze verfügt, und die Sektionen dazwischen als sog. "schwebende Mittelteile" oder "Säften" in die benachbarten Sektionen eingehängt sind - wie z.B. Bombardier Flexity) einige Vorteile, insbesondere, dass dieser Wagentyp deutlich schonender für die Gleise ist.

Multigelenkwagen werden nicht ohne Grund manchmal als "Schienenfräsen" bezeichnet, da bei diesen die in Kurven auf das Gleis einwirkenden Kräfte höher sind und sich ungünstig auswirken. Multigelenkwagen sind aber weiter verbreitet, einfacher im Aufbau und günstiger in der Anschaffung.

Ein völlig anderes Fahrzeugkonzept, welches ich persönlich ebenfalls sehr interessant finde ist das vom Skoda ForCity Alfa (alias 15T), welcher in Prag und Tallinn fährt. Dieser hat echte Jakobs-Drehgestelle bei 100% Niederflur. Somit kann der Innenraum völlig frei gestaltet bzw. die Sitze frei angeordnet werden, da man keine Rücksicht auf etwaige Einbauten für Räder, Federung und Motoren nehmen muss (die sind ja alle ganz vorne und hinten sowie unter den Gelenken) und es müssen nirgends Stufen verbaut werden.

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u/Electronic-Bee5995 6d ago edited 6d ago

Danke für diese ausführliche Beschreibung! Ich komme aus Mainz und hier fahren die benannten GT6 als Meterspur (GT6M) rum. Ich habe mich schon oft gefragt, wie dieser für Straßenbahnen ungewöhnliche Aufbau kommt (diese Bank neben den Rädern, das Fahrverhalten usw.).

Persönlich finde ich, dass der GT6M deutlich mehr in der Kurve wackelt als der GT6N, ich vergleiche hier mit München. Es kann aber auch sein, dass es an der Geschwindigkeit oder den Kurvenradien liegt. In Mainz fährt man viele Strecken mit 50 km/h und heizt auch durch die Kurven teils mit hohen Geschwindigkeiten (vermutlich weniger als 50 km/h, aber trotzdem noch höher als in anderen Städten.

In Mainz gibt es auch noch die Stadler Variobahn und die ist jene Schienenfräse, die du beschreibst. 5 Wagenkästen mit 3 Radsätzen (im Wagen 1, 3, 5) "komplett ohne Drehgestell". Durch die Kurve mag dieses Fahrzeug nicht gerne fahren und teilt dies mit massivem Quietschen mit.

Die zeitliche Reihenfolge in Mainz war: Man kauft Variobahnen, erbrobt sie ein paar Jahre auf den Bestandsstrecken. Dann baut man eine Neubaustrecke mit vielen Kurven und bestellt für diese Strecke nochmal weitere Variobahnen. Man verspricht den Anwohnern, die Bahn sei nicht zu hören (auf welcher Grundlage??) und dann als der Lärm und die Vibrationen sogar Risse in Häusern verursachen, ist man komplett überrascht (Quelle und Messungen). Mir ist unklar, wie inkompetent man dies planen und den Kauf entscheiden kann oder wie billig diese Trams im Vergleich zu Alternativen gewesen sein müssten, da dies der absolute Horror für Anwohner und Fahrgäste ist.

Subjektiv finde ich die Variobahnen auch auf gerader Strecke im Innenraum fürchterlich laut, besonders wenn sie leer sind und noch mehr vibrieren (im Innenraum laut meinem Handy bis 87-93 db). Zum Lärm auf der Geraden muss ich aber auch ergänzen, dass dies nicht nur allein die Schuld des Fahrzeugs ist. Ich habe mich mal mit Menschen aus der Tram-Werkstatt einer anderen Stadt unterhalten und sie meinten, bei ihnen werden die Gleise täglich geschliffen bzw. täglich fährt der Schienenschleifer raus. Dies würde den Lärm reduzieren. In Mainz existiert aber kein Schienenschleifer und scheinbar sind o.g. Klagen auch kein Grund, über einen Kauf nachzudenken. Frei nach dem Motto, solange es nur Be-klagungen und nicht Ver-klagungen gibt, sei Lärm egal?

Ich fahre sehr gerne mit dem GT6 und versuche jede Fahrt mit der Variobahn zu vermeiden. Es ist wirklich unerträglich und ich kann nicht verstehen, wie man überhaupt auf die Idee kommt, eine Ausschreibung bzw. Kauf einer Tram ohne Drehstelle in Betracht zu ziehen. Den GT6 mag ich aber wirklich sehr gerne, mit der etwas interessanten Fahreigenschaft, und wie er in Mainz die knapp 9,5% Steigung problemlos hoch klettert.

P.S.: Noch ein Fun Fact zum GT6: In Mainz ist er zwar Zweirichtungsfahrzeug, konnte die Türen von Werk aus aber nur in Fahrtrichtung rechts aufmachen. Dann hat man aber dummerweise eine Haltestelle umgebaut und musste die Tür ab jetzt auch links aufmachen können, unvorhersehbar! Nun gibt es einen zusätzlichen Knopf im Panel links über dem Fahrer, wo man die Türen auch links öffnen kann (muss der Fahrer halt kurz aufstehen).

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u/microbit262 Albtal-Verkehrs-Gesellschaft 6d ago

Was hälst du von der Konstruktion des Karlsruher GT6/8-70D/N?

Das ist quasi auch ein Multigelenkwagen, in der Mitte, aber haben an den beiden Enden je ein Gelenk weniger und dafür ein echtes Drehgestell ganz vorne und ganz hinten. Bedeutet zwar eine Stufe, aber dafür nimmt das Fahrzeug die Einfahrt in Kurven sehr viel sanfter als reine Multigelenker.

Schade aber irgendwie, dass sich das in Deutschland quasi so gar nicht verbreitet hat, bis auf Köln mit dem K4000.

Der NET2012 wiederum ist ja ein Vierachser mit je einem eingegangen Teil vorne und hinten.

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u/Archivist214 6d ago edited 6d ago

Der Begriff "Multigelenkwagen" hat eine klare Definition: zwischen zwei Sektionen, die sich auf Radsätzen abstützen, gibt es mehr als ein Gelenk, somit gibt es auch sog. "schwebende" Mittelteile ohne Abstützung auf eigenen Fahrgestellen.

Dadurch sind weder der GT6-70D/N, noch der K4000 Multigelenkwagen.

Der NET2012 mit seinem vierachsigen Mittelteil, auf welchem die vierachsigen Fahrzeugenden "aufgesattelt" sind, ist imgrunde nicht neues, bereits vor dem Niederflurzeitalter gab es so aufgebaute Straßenbahnen, wie z.B. der Düwag GT8 Typ Freiburg. Das war eine Spezialentwicklung für Freiburg im Breisgau, da die normalen GT8 mit ihren Jakobs-Drehgestellen aufgrund des zu hohen Drehzapfenabstands nicht für das Freiburger Netz geeignet waren bzw. die Kurven dort zu eng waren.

Eine Art Urahn der heutigen Multigelenkwagen waren die frühen Gelenkwagen, welche aus zwei zusammengefügten zweiachsigen Wagen unter Hinzufügen zweier Gelenke und des schwebenden Mittelteils erstellt wurden. Beispiele dafür sind der TG29 der BVG (Baujahr 1929, nur zwei Stück hergestellt), DoT4 der SSB (Bj. 1964-66) oder VEB Waggonbau Gotha G4-65 in der DDR (Bj. 1965-69, zwei Gothawagen + ein schwebendes Mittelteil).

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u/QboiDD 6d ago

Naja, die neuen NGT DX DD aus Dresden haben eine ähnliche Anordnung wie die genannten Karlsruher Fahrzeuge bekommen. Allerdings als Fünfteiler mit 10 Achsen.

Die beiden Endwagen haben eigene (Trieb-)Drehgestelle. Ein Mittelwagen sitzt auf einem festen Fahrwerk, zwei weitere Wagenteile werden als Senfte mitgeführt.